Grau in Zeit

Warum konnte er nicht einfach auf dem Dach eines naheliegenden Hauses stehen, die Hände ausbreiten, die Finger spreizen, sich ein Kabel zwischen die Fußzehen klemmen und als Hausantenne wie viele andere für guten Empfang sorgen dürfen? Es wäre einfacher.

Der Tag hatte erst die Decke von sich geworfen und stand schon graumelliert im Körperkleid. Wasser tropfte auf die Scheibe, aus dem Wasserhahn auf das Email des Beckens. Das Kaffeepulver war noch trocken, sein Magen wie leer gepumpt. Weder roch es nach Frühstück noch nach dem Parfüm einer Frau.
Zwei Mädchen am Ausschank hatten gewettet, ob er Sekt oder Wein trinken würde. Eine verlor. Und dann: die Frau in Rot, in roten Jeans und Jacke — gestern. Sie hatte soviele Falten in ihrem jugendli­chen Gesicht, so zaghafte Bewegungen bei jedem Rhythmus der Musik. Das Glas Sekt trank er alleine.
Die Hosen lagen angespannt auf all den einsamen Körpern wie langsam tau­ernder Schnee auf Asphalt. Bunte Lichter bewegten sich auf dem Tanzboden, auch dann wenn er nicht tanzte und dann noch als er ging.

Er drückte rote Paste auf die Zahnbürste. Drei Minuten waren wieder eine lange Zeit. Die Zeit stach auf ihn ein. Der Kaffee kondensierte durch den Gaumen, der Toast zerbröckelte in sandfeine Teile bis sie den Magen füllten. Selbst der Staub auf den Bücherre­galen blieb ermattet liegen.

Wenn Hausantennen Seelen hätten, fragte er sich, würden sie davon­laufen?
Stur stehen bleiben, neue Programme fordern oder in sich zusammenfallen?
Würden sich die Kamine an ihrer Seite betrogen fühlen, als ehemals höchster Punkt des Hauses?
Würde es deshalb zu Krieg kommen zwischen Kaminen und Hausantennen?
Würden herumschleichende Katzen zu schlichten versuchen oder umschmei­chelnd sich für die eine oder andere Partei kümmern und ihren Nut­zen daraus ziehen?
Die Wohnungen werden kalt werden und stumm.

Er zog die Decke über sich, hörte Bachs Trauerode, die sich dem Weih­nachtsoratorium näherte, zählte die Tage bis Weihnachten, substrahierte die Tage, die seit dem Tod des Vaters vergangen waren, dividierte die Zahl durch sein Lebensalter. Er lachte auf und hörte weiter zu.

Natürlich könnte auch der kühle Rauch des warmen Feuers über die stäh­lernen Arme der Hausantenne kräuseln und wie eine endlose Umarmung sein — im Winter. Des Sommers würden sie sich in Gesprächen verlieren, über die Existenz, die sie unter sich vermute­ten. Eines Tages dann, vielleicht im Frühjahr, würde ein dunkel gekleideter Mann die stählerne Spirale in den Schornstein stechen. Dann hätten sie einen dieser Existenzen gesehen, die­ser erbärmlich nach Dreck und Sauberkeit Suchenden.

Die Gedanken waren aus gedrechseltem Holz, das Haus robust auf Stahlträ­ger gebaut. Es war kaum zu erwarten: eine Veränderung. Zunächst war festzuhalten, dass der Tisch stand, die Stühle wie eh und je sich gegenüber standen, und er auf dem Fußboden in zwei Pantoffeln, dunkelblaue.

Es stand schlecht um die Hausantennen, dachte er. Jetzt mussten sogar die Tauben auf ihren jahrzehntelangen Spaß verzichten. Sich auf einem der Äste der Hausantennen anzuschleichen, um mit einem Satz auf dem Gefieder ei­ner anderen zu springen und liebesverloren zu sein, war nicht mehr. Die Lust verlor sich auf den abschüssigen Satelittenempfängern.

Ausgebreitet waren die Arme des Sessels. Er stand still am Fenster. Über den gelangweilten Dächern kroch der Tag. Schleimspuren von Stunden, von Wo­chen und Jahren, von Generationen standen darauf geschrieben. Dachziegel verkrochen sich hinter schwarzer Schlacke, Kamine dampften ihre letzte Pfeife, die Hausantennen wiegten sich selbst wie das kleine Kinder tun, in großer Trauer oder Angst.

Der Abend wartete noch. Der Abend wartete noch mit einigen Stun­den Licht.


Texte von Jürgen Gisselbrecht | copyright 2023