Springtide

[Leseprobe]

I.

Heute muss SIE kommen. Heute werde ich SIE endlich wieder in die Arme schließen.
Es ist Frühling geworden. Ich vermisse Buschwindröschen. Auf dem Sandboden wachsen sie nicht. Ich denke an Madonnenlilien.
Am Horizont das Schiff. Gespannt sehe ich aus dem Abteilfenster. Das Wasser ist vorangegangen, einen großen Schritt: Flut. Genug Wasser für das Passagierschiff Rosa, damit es am Inselhafen anlegen kann.
Heute muss SIE kommen. Heute muss die Rosa mit IHR ankommen.
Das Meer züngelt, zerrt am Bahndamm. Tuckernd fährt dem Hafen entgegen die Inselbahn. Der große Teppich Meer wird sich über sechs Stunden wieder eingerollt, das Wasser sich zurückgezogen haben.
Weit in das Meer hinein ist der Hafen gebaut.
Til, der Inselglaser hat es erklärt: »Ein Kranz Stahlspundbohlen ist um den Hafen herum gelegt, so ist er unverwüstlich geworden.«
»Unverwüstlich wie die Wüste?«, fragte ich.
Die Inselbahn liegt mit drei Waggons und mir als einzigem Fahrgast wie ein gestrandeter Wal am Hafen. Das Passagierschiff Rosa wird festgemacht; an der Reling stehen gebannt die ersten Passagiere. Ob SIE wohl müde ist? Wird die dreistündige Seefahrt nicht zu viel für SIE gewesen sein?
Vor der Gangway der Rosa stelle ich mich auf, verfolge den kurzen Weg der Menschen, die vom Schiff auf die Insel gehen, suche fiebernd nach einem Zeichen, Lippen, Augen und Haaren von IHR. Die meisten Menschen beachten mich nicht, und die, die mir flüchtig in die Augen sehen, kenne ich nicht. Von einer alten Frau werde ich zur Seite geschoben, so wie man einen fremden Koffer beiseiteschiebt.
Die meisten Menschen kommen nicht allein. Ehepaare schlendern über die Landungsbrücke, Kinder springen und hüpfen vereinzelt um sie.
Wenige Frauen kommen allein auf die Insel. Einige bleiben stehen, kümmern sich um ihr Gepäck. Diese sehe ich besonders lange an, bis sie sich abwenden. Ich sehe auf Lippen, die nicht IHRE Lippen sind, die nicht das Rot von Leuchtreklame haben. Diese Lippen sind blass, zerfurcht, oft zerbissen. Ich sehe in Augen, die nicht IHRE Augen sind, die nicht das Grün von Absinth haben. Diese Augen dort bestehen aus Tee, braunem, ungezuckertem Tee, oft milchig verschleiert. Diese Haare sind dunkel, verweht. Haare wie Marilyn Monroe haben sie alle nicht. Diese Haare flattern blass im Wind, werden zu verschwommenen Strichen, die nicht IHR Haar in den Himmel malen.
SIE ist wieder einmal nicht gekommen. Sicher kommt SIE morgen oder in den nächsten Tagen. SIE benötigt noch ein wenig Zeit für alles.
Die Bahntrasse führt vom Hafen über den Deich zur Insel und zieht sich lange Kilometer hin. Treibeis kann ihr nichts mehr anhaben.
»Vor zwanzig Jahren hat Treibeis den Bahndeich und den alten Hafen zu holzigem Brei gepresst«, sagte Til, »aber selbst die Bahntrasse ist jetzt bombensicher!«
Darüber musste ich lachen, Til aber schüttelte verärgert den Kopf, ließ sich aber trotzdem in die »Pupille«, eine Kneipe mitten im Dorf, einladen.
Tage später lud mich Til ein, seine Glaserei anzusehen, und ich besuchte ihn gleich am nächsten Tag. Til schnitt gerade Fenstergläser zu und zeigte mir wenig später die Werkstatt, all die Fenstergläser und Fensterrahmen. Überall an den Wänden verstreut hingen Fotografien seiner früh verstorbenen Frau; Til hatte ihre kastanienbraunen Haare sehr geliebt.
Röchelnd fährt die Bahn an. Ankommenden tönt das Pfeifen als Schrei eines eisernen Vogels. Grauer Bahndunst wirbelt mit Meeresluft vermischt in jeden Mund. Nachts wache ich oft auf, schmecke diese salzgeschwefelte Luft, die in der Rachenhöhle nistet, und starre auf die Schattenspiele an den Wänden: Rote Leuchtreklamelippen sehe ich, Augen von Absinth, Haare wie Marilyn Monroe. Sie. Dann vergrabe ich mich in das Kissen, während Speichel mir aus den Mundwinkeln fließt. Manchmal stehe ich auf, trinke Wein; manchmal schlafe ich auch wieder ein.

Ich schiebe mich langsam durch die Abteile, sehe noch einmal auf die Angekommenen – die Frauen. Die Frau, die ich suche, ist nicht angekommen.
Wenig später, als ich durch die Abteile gegangen bin, die Bahn unter rostigem Quietschen auf dem winzigen Sackbahnhof hält, habe ich alles getan, was ich tun muss. Ich suche. Suche SIE.
SIE, so tuscheln bereits einige Insulaner argwöhnisch, gebe es nicht, habe es noch nie gegeben, niemals. Andere zeigen hinter meinem Rücken auf mich, würden SIE gerne für mich aus dem Meer fischen, vom Festland einfangen, mit einem großen Schmetterlingsnetz. Man munkelt, ich hätte vor einem halben Jahr diesem oder jenem Ankommenden sogar eine Fotografie von IHR gezeigt, die schon drei Tage später vom Wind verweht, vom Meer verschluckt geblieben sei. Dann erst, so meinen jene, hätte ich angefangen mit dieser wunderlichen Beschreibung einer Frau mit roten Leuchtreklamelippen, mit Augen von Absinth und Haaren wie Marilyn Monroe. Einige Insulaner sahen in die Augen ihrer Frauen, und obwohl sie grün waren, konnten sie keinen Absinth erkennen; die Lippen ihrer Frauen sind von Salz und Wind rosa gegerbt; ihre Haare sind kurz geschnitten, damit der Sturm sie nicht verknote. Kein Insulaner kann sich DIE Frau vorstellen, die ich suche. SIE aber wird sicher bald kommen, und die Insulaner werden SIE endlich sehen und kennenlernen.
Kein Insulaner kennt meinen wahren Namen. Hier und da tauchte ein Name auf, der aber bald wieder ins Ungewisse verschwand, und niemand wollte es auf sich nehmen, etwas zu erfinden. Dennoch rief mich irgendwann einmal irgendein Spaßvogel Leuchtreklamemann – und dabei blieb es. In der Pension von Anna Levin, in der ich wohne, habe ich auf dem Anmeldebogen für Name, Vorname und Anschrift drei kleine Kreuze gemacht. In der Spalte für das Geburtsdatum drehen sich zwei ineinander verschlungene Kreise, der Ankunftstag ist verkleckst, der Tag der Abreise papierweiß. Seit letztem Sommer bezahle ich das Zimmer pünktlich. Und ist SIE erst einmal angekommen, werde ich mit IHR zusammen einen neuen Anmeldebogen ausfüllen und IHREN Namen daruntersetzen.

Die Angekommenen zerstreuen sich in drei Himmelsrichtungen. Meine Unterkunft liegt im Westen der Insel. Ich benutze den geteerten Weg, auf dem einzig Pferdegeschirr und Fahrradklingeln eintönig scheppern. Der Weg ist nicht weit, nicht einmal zwei Viertel einer Stunde werde ich benötigen.
Viertel, vierteln – meine Zeit zu vierteln begann ich schon bald. Ein Viertel Schlaf, das zweite, um den Schlaf zu überwinden. Das dritte und vierte Viertel für Unrast und Erwartung. Der Bruch der Zeit, der echte Bruch. Der Nenner bleibt immer gleich, aber der Zähler verrutscht wie Geröll auf einem Berg mit leichter Neigung, das immer wieder auf den Berggipfel hochzuschleppen ist. Jetzt schlafe ich manchmal neun Stunden, und der Tag hat mich gebrochen. Das zweite und das dritte Viertel müssen neu geordnet werden. Geröll türmt sich schwarz in mir auf. Auf der Insel muss ich sogar mit der Zeit von Flut und Ebbe rechnen. Wann kommt das Schiff an? Wann gibt es genug Wasser, damit die Fahrrinne so hoch mit Wasser gefüllt ist, dass das Schiff mit IHR ankommen kann? Jeden zweiten, zuzeiten auch nur jeden dritten oder vierten Tag kommt das Passagierschiff Rosa an. Bei starkem Ostwind ist die Rinne leer, das Wasser weit zurückgetrieben. So bleibt das Schiff oft viermal vier Viertel lang vermisst. Schließlich muss ich die Tage neu ordnen lernen. Wie viel Viertel davon benötigt der Schlaf und wie viel Viertel das Warten? Und SIE? SIE ist noch immer nicht angekommen. Aber SIE wird kommen. Täglich rechne ich mit IHR.

Die Sonne steht im dritten Viertel des Tages. Nach und nach überholen mich ein Pferdeomnibus und mehrere Einspänner. Straff halten die Kutscher die Zügel. Ein Kutscher knallt gelangweilt seine Karbatsche über den Kopf des schnaubenden Pferdes. Fahrradfahrer grüßen kurz.
Pechschwarzer Straßenbelag schluckt meine Bewegungen. Vor der Krümmung der Straße steht still ein Einspänner. Davor der Kutscher, der sich mit seiner Karbatsche über die Finger streicht. Aus dem Fenster des Eckhauses reckt ein Mann seinen Kopf. Einige Stimmfetzen schwirren über die Straße. Ruhig halte ich die Arme am Körper, das Gesicht unbewegt, nur mein Mund zittert. Ist es die Einsamkeit meiner Gedanken, die Lust am fremden Wort, die Hoffnung auf einen Hinweis auf SIE, was mich ohne lange Überlegung auf die Unterhaltung zusteuern lässt?
»Zu mir hat doch letztens einer gesagt«, sagt der Kutscher, »wenn du mit fünfzig noch nicht zum Segeln gekommen bist, hast du etwas verkehrt gemacht!«
Der Kopf im Fenster nickt. Auch der Kutscher schweigt einige Zeit. Dann gleiten die geflochtenen Lederriemen der Karbatsche über seinen Handballen. »Meine Frau wartet mit dem Essen«, sagte er, wünscht dem anderen noch einen schönen Tag, macht es sich auf dem Kutschbock bequem, schnalzt mit der Zunge und lässt die Karbatsche mit einem scharfen Knall über den Kopf des Pferdes sausen.

Ich gehe weiter westlich. Langsam wächst der helle Punkt zu dem zweistöckigen Haus an, in dem ich ein Zimmer bewohne. Anna Levin, meine Wirtin, wird Obst und Gemüse in die Regale ihres Kaufmannsladens einräumen. Und ab und an wird sie ihre braunen Locken aus dem Gesicht streichen. SIE wird Anna Levin sicherlich mögen.
»Wie der Wanderer am Himmel sehen Sie aus!«, sagte sie einmal. Ich nickte bloß. Ein anderes Mal sah ich Anna Levin sogar auf der Düne. Und ich hob den Kopf gegen den Himmel, vielleicht auch mehr gegen das Meer. Lange, länger als eine halbe Stunde, stand Anna Levin auf der Düne, und ich ging weiter, immer weiter, bis sie ein dunkles Sandkorn am Horizont geworden war. Blau hatte sich der Himmel über mich ergossen. Am Abend kam ich wieder, und aus meinen hohen Schuhen quoll Sand. Und Anna Levin sah mich an wie den Mann im Mond, beschwerte sich nicht einmal über den Sand auf ihrem blauen Teppichboden.
»Sie sprechen wenig«, sagte Anna Levin, »so wenig, dass viele glauben, Sie könnten einzig jene Worte sprechen, die nach IHR fragen – rote Leuchtreklamelippen, Augen von Absinth und Haare wie Marilyn Monroe; Wortbrocken, die Sie auf die Ankommenden werfen.«
Ich aber ging langsam, ohne Antwort die Wendeltreppe nach oben auf mein Zimmer.
»Sie erinnern mich an Gerd, meinen verstorbenen Mann«, murmelte sie noch hinter mir her.
Schnell schließe ich nun auf. Anna Levin ist nicht zu Hause, sie räumt Obst und Gemüse in die Regale ihres Kaufmannsladens ein. Ich gehe die Treppen nach oben, öffne meine Tür, entledige mich meiner Kleidung, kippe das Fenster und lasse die Jalousie nach unten fallen; wühle mich in das Federbett.
Einige Stunden döse ich. Am späten Abend besuche ich die Pupille. Dort trinke ich wenig. Zurück gehe ich am Meeresleuchten entlang und schlafe dann bis zum nächsten Morgen. Kein Mensch stört mich.


[Leseprobe zu Ende]


Texte von Jürgen Gisselbrecht | copyright 2023