Aus dem Weg

In der Straßenbahn halte ich mich an einer der Halteschlaufen fest. Ich lasse sie immer wieder los, in der Hoffnung nach hinten geschleudert zu werden, vielleicht auf einen spitzen

Gegenstand. Die Halteschlaufen sind Galgen. Mit der Hand fasse ich sie an: straffes Plastik. Hunderte baumeln zwischen den Fahrgästen. Die Straßenbahn fährt in einen der dunklen Tunnel, die Hinrichtungen werden vorbereitet, unaufhaltsam fischen die Galgen nach den Köpfen der Fahrgäste. Die Straßenbahn bleibt stehen. Die Fahrgäste sind still geworden.

»Eine kleine technische Widrigkeit, es wird … ich hoffe es wird gleich behoben sein«, ruft der Schaffner durch die Lautsprecher. Im schwach beleuchteten Tunnel laufen Kabel entlang, die Telefon- und Elektrizitätsleitungen der Stadt.

Der Beton des Tunnels ist plötzlich voller Regenschlieren. Woher kommt das Wasser? Gleich wird der Schacht vollgelaufen sein. »Durch eine unvorhersehbare technische Panne ertranken einhundertzweiundzwanzig Fahrgäste«, wird morgen in der Lokalpresse zu lesen sein, vielleicht sogar in allen Zeitungen der Republik.

Die Augen schließen, während ich Auto fahre. »Eins, zwei, drei, … vier«, zähle ich, öffne die Augen – und es ist nichts geschehen. Ich hätte auf einen Lastwagen prallen können, eine Straßenlaterne rammen. Bisher zählte ich bis vier, denn ich wollte weder Passanten noch Hunde überfahren. Auf der Autobahn zähle ich bis drei. Zumeist hupen die ersten bereits, wenn ich bis zwei gezählt habe. Einmal streifte ich die Leitplanke, sie war leicht eingedrückt, ebenso meine Fahrertür. Eines Tages werde ich bis sieben oder sogar bis zu meiner Lieblingszahl elf zählen.

Vor einigen Jahren stand ich zwei Stunden lang im Schnee auf einer Brücke, darunter fuhren im Stundentakt Züge. Mich schreckten die Hochspannungsleitungen ab, auch die Schilder »Bitte nicht betreten, Hochspannung, lebensgefährlich«, die ganz in Orange, wie kleine lachende Zuschauer herumstehen.

Ein naher Bekannter stach sich das Messer in die Brust, wollte das Herz treffen und traf nur einen dummen Knochen. Er wollte sich gleich danach, blutend, von einer Brücke stürzen und

brach sich beim Treppensteigen im Hausflur das Bein. Seine Nachbarin schaffte ihn ins Krankenhaus. Wochen danach fuhr er mit einem Bus, der eine Böschung herunterstürzte, er war der einzige Überlebende.

Zielstrebig fliegt die Motte auf ihre Sonne zu, ruht aus und verglüht. Eine Biene wirft sich immer wieder genüsslich auf die Glühbirne. Nach nicht einmal zwei Minuten liegt ihr gebogener Leib auf dem Boden. Ihr Stachel hat sie, wie die Gipfelflagge eines Bergsteigers, in ihren eigenen Leib gerammt.

Bild: Kerstin Bober

Texte von Jürgen Gisselbrecht | copyright 2023