Die Auktion
[nach einem Bild von Kerstin Bober]
In jeder Stadt gibt es einen Trödler, einen An- und Verkauf, ein Antiquariat. Ich suche nach Hirschen – in jeder Form.
In Karlsruhe kaufte ich am 1. Mai 1970 mein erstes Hirschgeweih, Rotwild aus braunem Plastik. Meine Hirschsammlung stand noch ganz am Anfang, heute würde ich soetwas nicht mehr kaufen. Dieses Plastik-Hirschgeweih verstaubt in meinem Flur – neben dutzend anderen Hirschgeweihen.
In Hannover setzte am 17. Juni 1981 fast mein Herzschlag aus, ein Bild mit einem springenden Hirsch in einer surrrealen Landschaft. War es das? Ich schloß meine Augen. Da war nichts. Nein, da fehlte etwas, da fehlte sogar viel. Dieser springende Hirsch hängt nun in meinem Schlafzimmer, daneben ist noch ein Platz frei. Ringsherum dutzende, nein ganz genau 37 andere Gemälde und Grafiken von Hirschen.
In Hamburg gibt es kaum Hirsche. Die Trödler kennen mich seit Jahren und legen mir immer etwas zur Seite: eine Schnupftabackdose mit goldenem Hirsch auf einem Felsen, ein Feuerzeug mit einem Hirsch, der wie ein Drachen Feuer speit. Feine Sachen, die ich gekauft habe in den 90er Jahren.
Zum Geburtstag schenkt man mir Hirsche, Socken mit dämlich dreinschauenden Hirschen und Unterhosen mit rülpsenden Hirschen, zu heiß gewaschen dümpeln sie nun in einer Kiste vor sich hin, wie so vieles andere, tausende Hirsch-Nippes.
In den 80er Jahren verbrachte ich oft meinen Urlaub in Bayern, ein Förster machte mir das Angebot mit ihm auf die Pirsch zu gehen, einen Hirsch zu schießen, der schon lange krank in seinem Revier herumhumpelte. Wir waren drei Tage unterwegs, der Hirsch zeigte sich kein einziges Mal. Der Förster schickte mir zwei Monate später das Hirschgeweih, das jetzt im Flur hängt.
Vor zwei Tagen kam ich in Bielefeld an. Ein guter Freund schickte mir den Auktionskatalog zu. Morgen beginnt die Auktion: Hirsche werden versteigert, hunderte Gemälde und Grafiken. Leider wurden nicht alle abfotografiert. Ich muss unbedingt alles über diese Bilder sehen und erfahren. Das Erbe einer verstorbenen Frau, die Neffen wollen alles loswerden, die Kinder der Toten sind unauffindbar, heißt es. Nicht einmal die Polizei weiß mehr.
Ich habe also noch Zeit und klappere alle Trödler, Pfandleiher, Auktionshäuser ab. Im Pfandhaus, direkt neben der St. Jodokus Kirche ergattere ich noch ein Schnäppchen: ein Hirschkopf aus Elfenbein aus den 40er Jahren des 20. Jahrhunderts, ein 14-Ender nur 23cm hoch.
Es ist bereits dunkel geworden, ich gehe zurück ins Hotel, schon lange nicht mehr übernachtete ich bei meinem Freund, der Schallplatten und Klaviere sammelt und keinen Platz mehr für mich hat. Also esse ich im Restaurant und gehe früh schlafen.
Ich träume wie jede Nacht den selbsten Traum: Es regnet, in den Pfützen spiegelt sich blauer Himmel. Doch dann wache ich auf, möchte nicht weiterträumen, wie jede Nacht. Lieber erinnere ich mich an Damals, wie es war. Als ich mit Susanne tanzen war, wie wir nach dem Tanzen auf den Feldern weiter tanzten, wie der Sternenhimmel über uns war. Wir erzählten uns Geschichten, Tiergeschichten, ich war der einsame Wolf, sie … Dann schlafe ich doch wieder ein, träume von zuckerfarbenem Gold, das vom Himmel fällt und das Blau aus den Pfützen vertreibt.
Ich wache auf. Ich nehme mir einen Rotwein aus der Minibar, gehe ins Bad, schaue mir meine Bartstoppel an, trinke den Rotwein aus, setze mich an den kleinen Schreibtisch direkt über der Minibar und schreibe wieder einen Brief an sie.
»Liebe Susanne, erinnerst Du dich noch an unseren ersten Tanz, die Tänze auf dem Feld, die Nacht und dann dieser blaue Himmel. Siehst Du es auch, hast du gefragt, sieht du es auch, wie die Goldmünzen vom Himmel fallen, hast du mich gefragt und gekichert und mich mit Goldstaub, nein mit Puderzucker bedeckt, dass Du noch von der Küche in deiner Tasche stecken hattest.«
Es ist vier Uhr in der Früh, um neun Uhr ist die Auktion. Den Brief hab ich zu den anderen in mein Koffer gelegt.
Es nieselt, es ist leise, so leise wie früher auf den Feldern. Ich platsche in eine Pfütze, in der Nacht hat es viel geregnet. Meine Füße sind nass, die Schuhe undicht. Bis halbsieben verbringe ich den Morgen mit dem Spaziergang, ich liebe es, wie hinter den Gardinen das Licht angeknipst wird, das Radio aus den Häusern klingt, die ersten aus den Häusern wanken, das Röhren der alten Autos, die sich noch weigern anzuspringen. Ich gehe zum Hotel zurück, frühstücke.
Zum ersten, zum zweiten und zum dritten. Ja, das Gemälde gehört mir. Ein Hirsch springt über einen Jäger, der gerade auf ihn anlegt. Der Jäger aus Bayern hätte darüber gelacht, aber ich weiß in meinen Schlafzimmer, direkt über dem Nachttisch ist noch ein Platz frei. Ich warte noch auf die anderen, weiteren Bilder.
Zwei Ölgemälde mit Hirschgeweihen, nein.
Dann eine Grafik, die zwar hübsch ist, sehr klein, nur 12×12 cm, aber ein pinkelnden Hirsch mag ich nicht.
Es wird Kaffee gereicht.
Dann geht es weiter, ein Gemälde im Winter mit drei Hirschen, ich kaufe nur Einzelhirsche.
Die Neffen werden an den Hirschbildern nicht viel verdienen, es sind nur fünf weitere Interessierte bei der Auktion, manche tippen bereits gelangweilt in ihre Handys.
Zuerst sehe ich das richtig geschmolzene Gold auf dem Bild, dann den Himmel in den Pfützen und erinnere mich an den Brief von Susanne:
»Lieber Georg, erinnerst du dich noch an unseren Tag, an das geschmolzene Gold in den Pfützen. Lange ist es her, Du hast dich nie mehr gemeldet. Warum? Dein Hirschlein.«
Es ist aber kein Hirsch auf dem Bild zu sehen. Der Auktionator geht einen Schritt zur Seite, der Hirsch springt fast lächelnd aus dem dunklen Bild heraus. Ich hebe die Hand.