Vaterland

»So blau der Himmel«, flüsterte Maria, »so blau der See. Ich sehe Euch alle. Ich komme zu Euch.« 

Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie zuletzt so ausgelassen war. Zwei Jahre nach dem Krieg und sie stand wieder am Anfang. Maria sah auf den Lockenkopf ihres jüngsten Sohnes. Herbstblätter hatten sich darin verfangen. Einige Puzzleteile fehlen noch, dachte Maria. Und Rudolfs blaue Augen passen so wunderbar zum Himmel, zum See. Sie mussten jetzt nur noch zusammen die anderen Puzzleteile finden. Alles war so leicht. Sie strich mit den Händen über die Köpfe ihrer beiden Jungs, die sie ansahen, als ob heute Weihnachten sei.

»Kommt, wir gehen jetzt in den See!«, rief Maria.

»Baden?«, fragte Rudolf.

»Zieht eure Schuhe aus. Wir finden jetzt die restlichen Puzzleteile, wir drei.«

Maria half Bernd die Schuhe auszuziehen. Rudolf konnte den Doppelknoten seiner Schuhe nicht lösen, zog einfach so die Schuhe aus.

»Und alles ordentlich neben die Bank legen. Krempelt die Hosen hoch. Wir werden jetzt zusammen gehen.«, erklärte Maria und nahm ihre Kinder an die Hand.

Rudolf sah auf seine Uhr, es war kurz vor elf. Er drückte fest die Hand seiner Mutter, noch fester als sie zu dritt am Ufer des Bodensees standen.

»Kalt, Mama, das ist kalt. Möchtest du da rein?«, fragte Rudolf leise.

»Ein Spass Kinder, was für ein Spass das wird. Wir suchen zu dritt den Bodensee ab und finden die restlichen Puzzleteile.«

Rudolf sah auf den See, sah die vielen kleinen Ruderboote, die sich im Hin- und Her der Wellen langweilten. Ein Segelschiff stand fast still. Auch die Möwen, die immer irgendwo am Himmel kreisten und krächzten waren nicht zu sehen. Rudolf schaute zu seiner Mutter, die lächelte wie an Weihnachten, suchte nach ihrer Hand.

Maria öffnete ihre Handtasche, zog die kleine Pillendose hervor und eine kleine Thermoskanne mit kaltem Tee. Die zwei Pervitin Tabletten schaukelten in der Pillendose.

»Das wird Euch gefallen, alles wird gut.«

Maria nahm eine Tablette in den Mund, schluckte sie mit dem kalten Tee herunter. Die andere Tablette brach sie entzwei. Eine Hälfte drückte sie Bernd an den Mund und presste die Thermoskanne dagegen. Bernd begann zu weinen, strampelte mit den Armen, die Tablett flog ins Wasser. Maria fluchte. Gab die zweite Hälfte Rudolf, der sie brav schluckte, auch ohne Tee.

Dann zog Maria ihren Ehering ab, legte ihn in die Locken von Bernd. 

»Das ist alles, das ist also der Rest. Mehr gibt es nicht.«

Bernd schüttelte sein Haar, der Ring blieb zwischen seinen Locken verfangen, er schaute mit verweintem Gesicht, fragend zu ihr. Maria nahm ihre Kinder wieder an die Hand und stapfte mit ihnen zwei Schritte in das Wasser. Spätsommer, lauwarmer Abend, es roch nach Seetang, ein Schwan kam angeschwommen. Bernd drückte sich näher an seine Mutter.

»Hier ist der Brief. Die schreiben, das er nicht mehr wiederkommt. Bitte machen Sie sich keine Hoffnungen mehr. Was wissen die über Hoffnung. Nicht wahr? Das ist nur ein Puzzleteil. Und das Wasser hilft uns.« 

Rudolf streckte seine Hand aus nach dem Brief. Maria ging einen weiteren Schritt in den See. Bernd weinte wieder, das Wasser stand ihm bereits bis zur Hüfte und der Schwan kam immer näher. 

»Ich verjage den dummen Schwan. Nicht weinen Bernd.«, sagte Rudolf, nahm drei Kieselsteine vom Seeboden auf und warf sie nach dem Schwan, der eiligst davon paddelte.

»Deshalb erklären wir ihren Mann Ludwigs Dreßler offiziell für tot.«, las Maria. Sie spuckte auf den Brief, wollte ihn ins Wasser werfen, nahm in die Hände, zerriss ihn, warf die Schnipsel in die Luft, einige verfingen sich in Bernds Haaren. Rudolf erhaschte einige Schnipsel und steckte sie gleich in seine Hosentasche. Maria ging noch zwei weitere Schritte in den See, Bernds Weinen hörte sich an wie das Krächzen der Möwen. Rudolf versuchte sich aus der Hand seiner Mutter zu befreien.

»Nicht, nicht weinen Bernd. Nicht weiter. Mama, Bernd kann nicht schwimmen, Mama.«

Maria ging weiter in den See, im Schlepptau ihre Kinder. Bernd sah zu Rudolf und weinte, das Wasser ging ihm bereits bis zum Bauch. Rudolf versuchte einen Schritte zurück zu gehen, doch nun hatte Maria ihre Hand so stark an seine gekettet, das es unmöglich war.

»Mama, wir wollen zurück.« schrie Rudolf.

»Das geht nicht mehr. Schau wie die Buchstaben schön schwimmen. Und die Männer sind tot und ich kann auch nicht schwimmen. Jetzt müssen wir die restlichen Puzzleteile holen, dann ist das schöne Puzzle fertig. Du magst doch Puzzle, das mit dem Berg und der Sonne. Gleich haben wir alles zusammen. Komm jetzt, komm.«

Bernd wimmerte nur noch, Rudolf wehrte sich jetzt nicht mehr gegen das Ziehen seiner Mutter in den See. 

»Was machen Sie da eigentlich junge Frau?«, fragte ein Mann im Ruderboot, der plötzlich neben ihnen war.

Roman ist in Arbeit – Auszug aus dem Roman


Texte von Jürgen Gisselbrecht | copyright 2023